Pflichtlektüre 2018: Das Millennial Manifest von Bianca Jankovska
Ich habe einen Zettel von der belgischen Post in meinem Brüssler Briefkasten. Obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, etwas bestellt zu haben, marschiere ich zur Post, um mein Überraschungspaket abzuholen. Zu meiner Freude halte ich fünfzehn Minuten später Das Millennial Manifest von Bianca Jankovska in den Händen; ich hatte es bereits vor Monaten ungeduldig vorbestellt.
Perfektes Timing – denn ich packe gerade meine Tasche für einen Kurzurlaub über’s lange Wochenende. Zwar bin ich bereits tief in einem anderen Roman versunken (The Book Thief von Markus Zusak), aber Jankovskas ersten Buch nehme ich trotzdem – und verschlinge es in anderthalb Tagen.
Schon seit Jahren lese ich Bianca Jankovskas Texte sehr gerne, genauso wie ihre Instagram-Beiträge. Deshalb bin ich nicht überrascht, dass ihr Buch extrem gut geschrieben ist: Witzig, nahbar, persönlich und ehrlich.
Für Euch gelesen und rezensiert: Das Millennial Manifest von Bianca Jankovska. Fazit: 5 Sterne Click To TweetEiner Generation aus der Seele gesprochen
Das Millennial Manifest ist eine Sammlung von Essays, die sich so wunderbar passend aneinanderreihen, dass ich gar nicht anders kann, als gleich das nächste zu lesen. Und das nächste. Und das nächste. In den drei Teilen des Buches geht es jeweils um Dating und Liebe (“1. Kann das Liebe oder ist das weg?”), um zunehmend prekäre Arbeitsbedingungen für junge Menschen (“2. Willkommen in der Ellbogengesellschaft”) und um Selbstverwirklichung und Privatleben (“3. Namaste my Ass”). So viele der Situationen, sprechen vermutlich nicht nur mir, sondern auch vielen anderen so-genannten Millennials (also jungen Menschen zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig) aus der Seele: von Tinder-Knigge über den ganz normalen Social-Media-Wahnsinn bis hin zum Berufseinstieg.
Was macht die permanente digitale Erreichbarkeit mit unserem Liebesleben? Was passiert mit unserem Lebensgefühl, wenn scheinbar jeder auf Instagram das perfekte Leben führt – nur man selbst nicht? Und was macht es mit uns, wenn auf dem Arbeitsmarkt jeder mit jedem konkurriert und alle ersetzbar scheinen (zumindest manchen Branchen)?
Ob Germanistik-student/in oder Krankenpfleger/in:
Ist es okay, dass es “normal” geworden ist, dass immer mehr junge Menschen erst mal eine gewisse Zeit unter- oder gar ganz unbezahlt arbeiten müssen? Oder dass immer mehr junge Menschen es nicht schaffen auszuziehen obwohl sie einen Job haben, weil ihr Verdienst zu gering ist und die Mieten einfach zu hoch? Dass immer mehr junge Menschen immer länger finanziell von ihren Eltern abhängig sind, bevor sie mit Ende zwanzig, Anfang dreißig finanziell endlich mal selbst auf eigenen Beinen stehen können – von Familiengründung mit Haus am Stadtrand mal abgesehen? Und was ist mit denen, deren Eltern ihnen finanziell nicht unter die Arme greifen können, selbst wenn sie es wollten?
Ist es okay, dass heute immer mehr junge Menschen trotz Top-Ausbildung und Vollzeit-Job finanziell nicht auf eigenen Beinen stehen können? Click To TweetJankovska schreibt (und das habe ich auch schon häufig beobachtet): Die Tatsache, dass immer mehr Arbeitgeber prekäre Arbeitsverhältnisse “mit einer ‘tollen Atmosphäre’ und ‘viel Spielraum’ legitimieren” führt dazu, “dass viele Plätze logischerweise nur von denen in Anspruch genommen werden können, die tatsächlich aus einem privilegierten Haushalt stammen und sich auf die [schlecht oder unterbezahlte] Arbeit stürzen können, statt sich darauf konzentrieren zu müssen, was abends auf dem Teller landet”. Man lerne ja so viel in diesen Praktika sei das Argument: “Das mag einerseits schon stimmen, andererseits fängt genau hier die Ungleichheit zwischen gesellschaftlichen Schichten zu greifen an. Wer wird die Chance bekommen, etwas zu lernen?” (S. 127-128)
Wer bekommt die besten (Berufs-)Chancen?
Fakt ist: junge Menschen, haben es heute oftmals schwerer mit Berufseinstieg und Existenzgründung: “Was an ökonomischem Kapital und Connections fehlt, muss später mit Bereitschaft – und wie man so gerne sagt: Motivation – wiedergutgemacht werden (S. 86)”. Mit einer kleinen aber wichtigen Einschränkung: Motivation und harte Arbeit alleine reichen meistens nicht, um den Mangel an Geld und Beziehungen auszugleichen.
Und was ist eigentlich mit der Masse an #feel-good #Millennials, die uns von Instagram bis YouTube mit ihrem #entrepreneurial #lifestyle die Nase lang ziehen? Was ist mit den ganzen Blendern à la: “Wie ich als um die Welt reise und als digitaler Nomade arbeite – und wie du das auch schaffst”? Von wegen.
Kann wirklich jeder das werden was er möchte?
Jankovska kritisiert in ihrem Buch, dass sich viel zu viele Menschen ihrer Privilegien nicht bewusst sind. Zu häufig wird so getan, als ob “jeder das werden kann, was er möchte, wenn er oder sie nur fest genug daran glaubt. Und wenn man auf seinen Job oder sein Studium keinen Bock mehr hat, dann ‘könne man ja schließlich auch etwas anderes tun’. Zumindest, wenn die Eltern hinterher für den neuen Lifestyle blechen.” Das Problem in dieser Annahme liegt auf der Hand. Denn “nicht jeder hat das Glück, schon von seinen Eltern die Grundfeste eines friedvollen Lebens in die Wiege gelegt zu bekommen: Geld zum Beispiel (S. 199-201)”.
Nun, das war schon immer so, nicht wahr? Schon immer gab es Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, schon immer hatten manche Menschen es leichter, und andere schwerer. Doch was hat sich innerhalb der letzten Generation/en verändert? Ist es die Politik im Allgemeinen? Ist es ein dysfunktionaler Kapitalismus? Ist es die Wirtschaftskrise? Oder ist es vielleicht alles davon? “Die Wirtschaftskrise kannten wir [während der Schulzeit] aus den Zeitungen. Im BWL-Unterricht führten wir Tagebuch darüber, als ob es sich dabei um eine lustige Geschichte und nicht das Dahinbröckeln unserer Zukunft handelte (S. 80)”.
Junge Menschen haben es heute schwerer
In ihrem Buch bringt Jankovska mit Biss und Humor ein Phänomen auf den Punkt, dass eben leider gar nicht zum Lachen ist: Junge Menschen haben es heute oftmals – trotz hohem (Aus-)Bildungsgrad – deutlich schwerer, finanziell klarzukommen.
Bianca Jankovska liefert die persönlichen Storys, Aktivist Wolfgang Gründinger liefert die Zahlen: „Diese Lohnlücke zwischen Jung und Alt gibt es tatsächlich, und sie driftet immer weiter auseinander. Vor vierzig Jahren erhielten junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch etwa 12 Prozent weniger Lohn als ältere, heute sind es schon knapp 25 Prozent. Auch das Vermögen konzentriert sich immer stärker bei den Alten: Damals besaßen die Älteren pro Haushalt noch zweimal mehr als die Jungen, heute schon viermal mehr. Niedriglöhne und unsichere Beschäftigungsverhältnisse betreffen vor allem die Jungen, die teilweise sogar vom Mindestlohn ausgenommen sind. Wer nicht gerade in ein wohlhabendes Elternhaus geboren wurde, hat es schwerer als früher, sich eine Existenz aufzubauen.“
Lohnlücke zwischen Jung und Alt hat sich in den letzten 40 Jahren verdoppelt: von 12% auf 25%. Zudem: Niedriglöhne und unsichere Verträge treffen vor allem junge Menschen. Click To TweetSie haben weniger Geld und weniger Zeit
Wait a minute. der Lohnunterschied hat sich verdoppelt? Das ist nicht alles: Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat in einer Studie herausgefunden, dass ältere Altersgruppen innerhalb der von 25 Jahre einen fast drei mal so hohen Lohnanstieg hatten, als jüngere. Drei Mal so hoch. Selbstfindung, Avocado-Toast und Weltreise? Die wenigsten können sich das leisten; das ist etwas, was “die anderen” auf Instagram machen.
Millennials: Selbstfindung, Avocado-Toast und Weltreise? Von wegen. Das können sich nur 'die anderen' auf Instagram leisten. Click To TweetDarüber gesprochen wird laut Jankovska trotzdem nicht genug – oder nicht laut genug, nicht oft genug, nicht organisiert genug. Im Kontext der geplanten Einführung des 12-Stundentags in Österreich zitiert Jankovska die Autorin und Aktivistin Jelena Gučanin: “Es soll sogar Menschen geben, die arbeiten, um über die Runden zu kommen. Die sich in die Krankheit arbeiten, um ihren Job zu behalten. Und auch jene, die nicht arbeiten, weil es zu wenige Jobs gibt. Und alle von ihnen haben ein Leben, ein soziales Umfeld, private Verpflichtungen, Hobbys und, man stelle sich vor: auch den Wunsch, mehr Freizeit zu haben. Also verwechselt hier nichts: Arbeitszeit wird verlängert. Arbeiterinnenrechte werden beschnitten. Get your facts straight. And organize.”
Dass viele junge Menschen bei dem Versuch, sich einigermaßen eine Existenz aufzubauen, nicht besonders viel Energie für aktives politisches Engagement übrig bleibt, ist nachvollziehbar. Und wer es doch versuchen will, hat es alles andere als leicht und braucht nicht nur ein dickes Fell, sondern auch viel Zeit, Geduld und vor allem Geld. Und das können sich die meisten ohne Unterstützung von außen beim besten Willen nicht leisten, sagt auch die kürzlich neu-gewählte 29-jährige US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez.
Es ist leicht, “unsere Generation” als unpolitisch zu bezeichnen
Nun, nicht jeder kann und möchte sich ein politisches Amt erkämpfen. Aber ein allererster Schritt ist doch mal, Dinge die schief laufen anzusprechen und im Kleinen aktiv zu werden. So kann man erst mal ein breiteres Bewusstsein dafür schaffen, dass es so nicht weitergehen kann – oder dass man es zumindest ein bisschen besser machen könnte. Und nur weil man die perfekt ausgearbeiteten Lösungen selbst nicht in petto hat, sollte es einen nicht davon abhalten, vorhandene Probleme und mögliche Lösungen mit anderen zu diskutieren.
Doch bereits hier liegt das erste Problem. Wir erinnern uns: immer mehr junge Menschen haben mit prekären Arbeitsverhältnissen und finanziellen Sorgen zu kämpfen. Unangenehm auffallen? Nee, lass mal lieber, ich habe größere Sorgen.
“Ich wünsche mir, mehr Menschen würden den Mund aufmachen”
Bianca Jankovska erzählt: seitdem sie selbst unbequeme Wahrheiten, zum Beispiel in der Arbeitswelt, konsequent und unmissverständlich anspricht, wird sie oft von Familie und Freunden gewarnt: “Bist du sicher, dass du dir damit nicht selbst eine Grube gräbst?”, “Wer will denn jemanden einstellen, der so radikale Äußerungen von sich gibt – und das auch noch öffentlich?” Jankovka wünscht sich, dass mehr Menschen den Mund aufmachen. Denn wenn sie sich “kollektiv gegen Missstände – und sei es nur im Kleinen, im eigenen Betrieb – zusammentun würden, dann hätte das aufschreiende Individuum weniger zu befürchten. Ganz einfach, weil alle am Widerstand beteiligt wären (S. 165).”
Buch-Rezension: Das Millennial Manifest von Bianca Jankovska. 'Es ist leicht, unsere Generation als unpolitisch zu bezeichnen'. Click To Tweet“Es ist leicht, ‘unsere Generation’ – als ob es sich dabei um eine homogene Masse handeln würde – als unpolitisch zu bezeichnen, wenn das kleinste Fehlverhalten zum Branchenausschluss oder zur Kündigung führt, wenn man für ehrliche Worte auf einer imaginären roten Liste landet, die einem bis zum Wechsel der Vorstandsebene Türen verschließt (S. 154).”
Was bedeutet es eigentlich, heute “politisch” zu sein?
Die Frage, die mir nach dem Buch am klebrigsten im Kopf stecken bleibt ist: Was bedeutet es denn heutzutage eigentlich, politisch zu sein? Muss man dafür Parteimitglied sein und sich in zähen Ortsvereinssitzungen regelmäßig den Hintern plattsitzen? Ain’t nobody got time for that! Politisches Engagement ist nicht besonders sexy, weil es eben mit jenen drögen Parteien in Verbindung gebracht wird, von denen sich niemand repräsentiert fühlt und mit denen niemand etwas zu tun haben will.
Was bedeutet es eigentlich, heute 'politisch' zu sein? Die Frage aller Fragen. Click To TweetDennoch: eine Jugend-Studie von 2015 zeigt, dass junge Menschen sich heutzutage viel stärker für Politik und Aktivismus interessieren als vorherige Generationen. Denn Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Bildungspolitik und Arbeitnehmerinnenschutz betrifft am Ende eben doch alle. Aber: die etablierten politischen Parteien profitieren von diesem neu entfachten Interesse nicht, denn das Vertrauen junger Menschen in diese Parteien ist verschwindend gering. Die Politikverdrossenheit bleibt hoch.
Junge Menschen interessieren sich heute mehr für Politik als frühere Generationen. Doch politische Parteien profitieren hiervon nicht. Die Politikverdrossenheit bleibt hoch. Click To TweetWelche Möglichkeiten etwas zu bewegen haben junge Menschen denn?
Einer Gewerkschaft beitreten? Auch nicht gerade beliebt oder verbreitet. Jankovska schreibt: “Zeit, zur Arbeiterkammer zu gehen und sich [über schlechte oder prekäre] Arbeitsbedingen zu beschweren, bleibt bei einer vollgepackten Woche auch nicht. 2:0 für den Kapitalismus (S. 109).”
Dabei wären gerade in dieser neuen, modernen Arbeitswelt neue Arten von Kontrollmechanismen und Arbeitnehmerschutz angemessen, oder nicht? Anekdotisch spricht Jankovska ein Beispiel an: firmeninterne Whatsapp-Gruppen. Diese sind in der Theorie ein schneller und direkter Kommunikationskanal zwischen Mitarbeitern. In der Praxis sind sie jedoch im besten Fall nervig, und können im schlimmsten Fall hochgradig schädlich für die mentale Gesundheit von Mitarbeitern sein – nämlich wenn persönliche Grenzen dauerhaft und unreguliert überschritten werden.
“Die Schwelle, nach Feierabend in ein Chatfenster ‘Morgen spontanes Meeting um 7:30’ zu tippen, ist definitiv niedriger, als um 21 Uhr den Mitarbeiter anzurufen und ihm zu sagen, dass er eine Stunde früher im Büro sein muss.” Das Problem: “die ungeschriebenen Regeln einer Firmen-Whatsapp-Gruppe macht nicht der Betriebsrat – sondern der Chef (S. 140)”.
Fazit: Das Millennial Manifest ist unterhaltsam und regt hochgradig zum Denken an
Für mich ist Bianca Jankovskas Buch nicht nur unterhaltsam, gut geschrieben und den-Nagel-auf-den-Kopf-treffend. Es möchte dazu ermutigen, die Missstände um uns herum öfter mal anzusprechen, anstatt die Dinge einfach so hinzunehmen und mit einem “Das gehört eben dazu” abzutun.
Deshalb ist das Millennial Manifest für mich auch politisch und regt zum Nachdenken an – und zum Träumen. Ja, wie wäre es denn, wenn wir zum Beispiel neue Betriebsräte gründen würden? Oder für Arbeitsbedingungen kämpfen, die an heutige Bedingungen angepasst sind? Wie wäre es denn, eine 20-Stunden-Woche für alle einzuführen, oder einen besseren Mindestlohn?
Klar, das können wir eh vergessen, denn wie soll man das denn umsetzen? Unsere Generation ist politisch ja auch nicht gerade bestens repräsentiert: Zum Beispiel sind nur 11% der Abgeordneten im europäischen Parlament unter 40 Jahre alt, und weniger als 2% sind gar unter 30. Im Deutschen Bundestag sieht es nicht anders aus.
Wer vertritt eigentlich junge Menschen politisch? Nur 11% der Parlamentarier in Europa sind unter 40 Jahre alt, weniger als 2% sind gar unter 30. Click To TweetUnd trotzdem. “Was uns jetzt übrig bleibt: Wir können entweder träumen. Oder im Kleinen tätig werden (S. 89).”
Was das für den einzelnen bedeutet, muss jeder für sich herausfinden, aber als allererstes solltet Ihr vor allem: dieses Buch kaufen.